Die Turteltauben sind tot! Es leben die Turteltauben!

01.11.2019

Im „Sterben der anderen“ habe ich über die Turteltauben geschrieben. Dass sie von den Feldern  verschwunden sind, verhungert vermutlich, weil sie nicht mehr genug Samen von Wildpflanzen finden, um ihre Jungen zu ernähren. Aber in unserer Sprache sind sie ebendig geblieben. Wir Menschen turteln noch herum, aber die zärtlichen kleinen Tauben, denen wir dieses Wort verdanken, sind nicht mehr da.

Der Nabu hat die Turteltaube zum Vogel des Jahres 2020 ernannt. Und lädt alle ein, sich an einer Petition zu ihrer Rettung zu beteiligen: Unfassbarerweise dürfen die in ihrem Überleben als Art gefährdeten Turteltauben in manchen Ländern Europas noch immer gejagt werden. Das soll sich ändern. Macht alle mit!

Mehr dazu in diesem kleinen Auszug aus meinem Buch:

Das Sterben der Turteltauben muss leise gewesen sein. Diese hübschen kleinen Tauben mit den schwarzweißen Streifen am Hals sind viel zarter und zurückhaltender als die forschen Straßentauben, die sich Fußgängerzonen und Bahnhöfe als Revier erobert haben. Die Turteltauben halten lieber Abstand zu den Menschen, sie nisten in Hecken und wagen sich höchstens in Parks vor. „In den achtziger Jahren haben sie hier noch gelebt“, erzählt Eichelmann. „Aber weil sie so unauffällig sind, hat niemand ihr Verschwinden bemerkt.“

Inzwischen haben Forscher herausgefunden, warum es die Tauben nicht mehr gibt: Die Turteltauben füttern ihre Jungen mit dem Samen des Erdrauchs. „Eine ganz normale hübsche rotblühende Pflanze“, so nennt sie Eichelmann, Landwirte werden sie wohl zum Unkraut zählen. Seit den achtziger Jahren ist die Landbewirtschaftung immer intensiver geworden. Viele kleine Felder wurden zu größeren zusammengelegt, Feldränder wurden einfach mitgepflügt und Hecken gerodet. Und der chemische Pflanzenschutz wirkt, wie er soll: Er tötet alle Pflanzen außer der Feldfrucht, die der Landwirt gesät hat.

Deshalb ist der Erdrauch immer seltener geworden und schließlich verschwunden. Aus der „ganz normalen hübschen Pflanze“ ist eine Seltenheit geworden. Spaziergänger mögen das schade finden, doch für die Turteltauben muss es eine Katastrophe gewesen sein.

Ich stelle mir vor, wie die Turteltauben nach ihrem langen Flug über die Sahara und das Mittelmeer ausgehungert in ihren Nistgebieten angekommen sind und nur wenig zu fressen gefunden haben. Wie sie vergeblich nach der Hecke gesucht haben, in der sie im letzten Jahr genistet hatten. Denn dort ist inzwischen eine Siedlung mit neuen Einfamilienhäusern gebaut worden. Oder der Landwirt hat sie abgesägt, weil ihm wegen der Hecke die Flächenprämie gekürzt wurde. Ich stelle mir vor, wie die Turbeltauben dann irgendwo einen neuen Nistplatz gefunden haben, aber keine Samen, um ihre Nestlinge zu füttern. Wie sie immer weiter und weiter fliegen mussten auf der Suche nach Körnern. Die Turteltauben kennen das Wort Ackerbegleitflora nicht, aber sie merken, dass etwas fehlt, was sie über Jahrhunderte gut ernährt hat: Erdrauch, Miere, Wegerich und Gänsefuß. Ich stelle mir vor, wie der Landwirt zufrieden von seinem großen Schlepper auf den Acker blickt und denkt: Wie gut der Weizen wächst! Oder wie eine junge Familie stolz ihr neues Haus in der Neubausiedlung bezieht und einen unkrautfreien Rollrasen im Garten ausbreiten lässt, damit die Kinder an der frischen Luft spielen können. Vielleicht ist genau an diesem nasskalten Tag der letzte Nestling der Turteltauben verhungert.